Zwischen Jugendhilfe und Straße
wohnungslose Jugendliche und junge Erwachsene
Wohnungslosigkeit trifft immer mehr
Jugendliche und junge Erwachsene. Die Jugendlichen, die sich
in Straßenszenen aufhalten, werden oft als "Straßenkinder"
bezeichnet. Gemeinsam ist ihnen, dass meist massive Störungen
und gravierende Probleme im Elternhaus sie dazu gebracht oder
gezwungen haben, die Familie zu verlassen. Sexueller
Missbrauch, körperliche und psychische Gewalt, Kontrolle und
starke Einschränkungen oder völlige Vernachlässigung sind
typische Erfahrungen. Manche sind aus Familien, andere aus
Heimen oder Psychiatrien ausgerissen, wieder andere aus dem
Elternhaus "hinausgeworfen" worden. Für einige ist die Szene
ein attraktiver Anziehungspunkt, für viele eine Art
Ersatzfamilie oder Notgemeinschaft. Jugendliche, die auf der
Straße leben, befinden sich generell in einer nicht legalen
Situation, da ein minderjähriges Kind laut Gesetz den Wohnsitz
seiner Eltern teilt und somit seinen Aufenthalt nicht selbst
bestimmen kann. Haben die Eltern eine Vermisstenanzeige
aufgegeben, so bedeutet das, dass die Jugendlichen polizeilich
gesucht werden. D.h. ihr Dasein gleicht einem Versteckspiel
vor Polizei, Bahnpolizei und anderen Behörden, weil sie
berechtigterweise fürchten, sofort ins Heim oder in die
Familie zurückgeführt zu werden, sobald sie aufgegriffen
werden.
Auf
der Straße leben ist nicht einfach
Viele
der Jugendlichen und jungen Erwachsenen sagen, die Straße sei
besser als alles, was sie vorher erlebt haben.
Wohnungslosigkeit ist jedoch alles andere als angenehm. Sie
stellt für die Betroffenen - ob minderjährig oder erwachsen -
eine Notlage dar. Während wohnungs- und mittellose Erwachsene
generell Hilfe zum Lebensunterhalt durch das Sozialamt
bekommen, ist das für Jugendliche nur im begründeten
Einzelfall möglich. Das Leben auf der Straße ist teuer. Es
gibt keine Möglichkeit, zu kochen oder Vorräte zu lagern.
Stets werden Personen von anderen mitversorgt. Wer Hartz IV
bekommt, bekommt meist nur den Tagessatz ausbezahlt. Viele
sind auf Betteln oder sogar Diebstähle angewiesen, um über die
Runden zu kommen. Und dies führt wiederum zu Kriminalisierung.
Wer auf der Straße lebt und nicht in eine
Übernachtungseinrichtung gehen will oder kann, muss draußen
schlafen oder bei Bekannten unterkommen. Insbesondere für
Mädchen gehören die Angst vor Überfällen beim "Platte machen"
bzw. die sexuelle Gegenleistung für einen Schlafplatz beim
Bekannten zum Alltag. Wer im Winter draußen schläft setzt sich
massiven gesundheitlichen Gefahren aus. Körperpflege und
Hygiene sind generell nur eingeschränkt möglich, viele werden
auch davon krank. Auf der Straße zu leben heißt aber auch,
keine Privatsphäre und nur ganz wenig Privateigentum zu haben.
Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten, mehr als Schlafsack und
Rucksack zu haben, bedeutet Ballast. Zum Alltag gehören
Polizeikontrollen, Hausverbote, Platzverbote und infolgedessen
Kriminalisierung.
Vertreibung
gehört zum Alltag
Insbesondere an
Hauptbahnhöfen sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in
den letzten Jahren massiver Vertreibung ausgesetzt. Seit der
Privatisierung der Bahn macht diese verstärkt von ihrem
Hausrecht Gebrauch: zusätzlich zum Bundesgrenzschutz
patrouillieren private Sicherheitskräfte der
Bahn-Sicherheits-Gesellschaft und ahnden Verstöße gegen die
Hausordnung mit einem Bahnhofsverbot. Das kann zum Beispiel
Betteln, "Herumlungern", "übermäßiger und gewohnheitsmäßiger
Alkoholgenuss" oder das "Sitzen und Liegen auf dem Boden"
sein. Für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist die
Hausverbotserteilung oft kaum nachvollziehbar. Werden sie
danach noch einmal im Bahnhof erwischt (sei es, um die
Toiletten zu benutzen oder die Bahnhofsmission aufzusuchen),
droht die Anzeige wegen Hausfriedensbruch und ein Bußgeld. Wer
das Bußgeld nicht bezahlen kann, läuft Gefahr, eine Haftstrafe
absitzen zu müssen. StreetworkerInnen werden durch diese
Kriminalisierung der Betroffenen mit zusätzlicher Arbeit
belastet: die Zeit für die eigentliche Hilfeleistung (z.B.
Unterstützung bei der Wohnungs- und Arbeitsuche) wird
beschnitten. Durch die regelmäßigen Kontrollen im Hauptbahnhof
meiden viele Jugendliche die Bahnhofsbereiche und halten sich
vermehrt in Innenstädten oder anderen Stadtteilen auf, was die
Probleme natürlich nicht löst, sondern nur verlagert. Denn
auch an anderen öffentlichen Plätzen sind Jugendliche, die
sich in Gruppen treffen, betteln, Bier trinken und womöglich
noch Hunde dabei haben, nicht gerne gesehen. Beschwerden aus
der Kaufmann- und Anwohnerschaft sind nicht selten.
Sitzmöglichkeiten - die in vielen Städten aus diesem Grund
gezielt abmontiert werden, damit sich dort keine "Randgruppen"
niederlassen - fehlen letztendendes auch älteren oder
gehbehinderten Menschen.
Erfahrungen
mit der Jugendhilfe
Viele
Jugendliche haben bereits Erfahrungen mit
Jugendhilfeeinrichtungen gemacht. Einige erlebten, dass sie in
geschlossener Unterbringung eingesperrt wurden oder dass ihre
Wünsche völlig ignoriert wurden. Diese Jugendlichen reißen
meist bald aus den Einrichtungen wieder aus und versuchen
dann, die Institutionen der Jugendhilfe zu meiden. Aber auch
mit fortschrittlicheren Konzepten der Jugendhilfe wie
Wohngruppen kommen einige nicht zurecht. Manche haben dort
eine Weile gelebt, orientieren sich immer mehr an der
Straßenszene und können dann die Regeln in der Wohngruppe
nicht mehr einhalten. Oder es kommt zu Konflikten mit anderen
Jugendlichen oder Betreuern bzw. Betreuerinnen, die zum
Abbruch der Maßnahme führen. Wenn Jugendliche eine oder gar
mehrere Maßnahmen abgebrochen haben, gibt es im Jugendamt oft
wenig Bereitschaft, es noch einmal mit einer anderen Maßnahme
zu versuchen. In vielen Fällen blockieren auch die Eltern
Maßnahmen, die von den Jugendlichen gewünscht und im Jugendamt
als sinnvoll erachtet werden.
Die
Forderung nach "Ausstieg" aus der Szene lässt viele
Maßnahmen scheitern
Wenn es zur Installierung einer
Jugendhilfemaßnahme kommt, so heißt das für die Jugendlichen
nicht, dass sie sich von heute auf morgen von der Straßenszene
verabschieden. Denn für viele ist die Straße zur
"Ersatzfamilie" geworden. Viele "pendeln" auch lange Zeit
zwischen Wohngruppe und Straße hin und her. Ob sie in der
Jugendhilfeeinrichtung ein neues "Zuhause" finden, hängt neben
der Berücksichtigung der Bedürfnisse der Jugendlichen
entscheidend von der Qualität der Maßnahme ab.
Fortschrittliche, emanzipatorische Konzepte haben sich leider
noch nicht überall in der Heimerziehung durchgesetzt.
Jugendlichen, die auf der Straße gelebt haben, fällt es in der
Regel schwer, den Anforderungen der Hilfepläne gerecht zu
werden. Der Kontakt zur Straßenszene, Fortlaufen,
Drogenkonsum, Fehlzeiten in der Schule oder mangelnde
Mitarbeitsbereitschaft werden ihnen als "persönliches
Fehlverhalten" angelastet und sind oft Grund für einen Abbruch
der Maßnahmen. Die Jugendlichen verlieren in diesen Fällen oft
nicht nur die Betreuung, sondern mit Beendigung der Maßnahme
gleichzeitg die Wohnung oder den WG-Platz und sitzen wieder
auf der Straße.
Perspektiven
Streetwork und niedrigschwellige
Hilfe erreichen diese Jugendlichen wieder. Doch letztendlich
geht es um mehr, als um Kontakt und eine Notschlafstelle. Um
Jugendlichen von der Straße Perspektiven, sprich ein neues
Zuhause im Rahmen der Jugendhilfe zu bieten, sind kreative
Lösungen gefragt. Das beinhaltet auch, sich auf Wagnisse
einzulassen. Zum Beispiel eine 15jährige in ihrer eigenen
Wohnung mobil zu betreuen, wenn sie es in keiner
Wohngemeinschaft aushält. Oder eine 17jährige mit ihren zwei
Hunden auf einem Bauwagenplatz unterzubringen und
niedrigschwellig zu begleiten, wenn das für sie die einzige
vorstellbare Perspektive ist. Letztendlich muss Jugendhilfe
ihre Sicht und Herangehensweise ändern und Mädchen und Jungen
mit ihren Wünschen und Bedürfnissen ernst nehmen. Sie muss das
anbieten, was Jugendliche annehmen und sie auf ihrem Weg
begleiten. Und das bedeutet letztendlich gemeinsame
Perspektiventwicklung statt starrer "Hilfe-planung".
Entwicklungsprozesse sind selten zielgerichtet und planbar.
Gerade diese Jugendlichchen brauchen Begleitung, ein Zuhause,
das Gefühl angenommen zu werden und nicht Entwicklungserfolge
vorweisen zu müssen. Und es bedeutet in letzter Konsequenz die
Abgabe von Macht und Führung und mehr Zutrauen und Vertrauen
in die Selbstverantwortung der Mädchen und Jungen. Die
Entwicklung zu einer "eigenverantwortlichen und
gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit" (KJHG) kann nur gelingen,
wenn sie den Betroffenen auch zugetraut und zugestanden wird.
Dabei bedeutet Eigenverantwortung nicht "Alleinlassen",
sondern die eigenständige Entwicklung fördern, und das heißt
auch Engagement und Einsatz für die Bedürfnisse der Mädchen
und Jungen, auch wenn es vielleicht neue und unkonventionelle
sind.
Weitere
Informationen zu Wohnungslosigkeit, "Straßenkinder" und
Streetwork finden Sie:
Auf
dieser Seite:
Buch: Streetwork und
Überlebenshilfen
Buch:
Auf der Straße leben - Mädchen und
junge Frauen ohne Wohnung
Streetwork (Themeninfo)
meine weiteren Veröffentlichungen zum
Thema
Auf
anderen Seiten:
Bundesarbeitsgemeinschaft Streetwork / Mobile Jugendarbeit: http://www.bundesarbeitsgemeinschaft-streetwork-mobile-jugendarbeit.de/
Landesarbeitsgemeinschaften Streetwork / Mobile Jugendarbeit:
Nordrhein-Westfalen: http://www.streetmob-nrw.de/
Baden-Württemberg:
http://www.lag-mobil.de/
Bayern:http://www.streetwork-bayern.de/
Streetwork der Stadt Münster: Jahresberichte zum Download: http://www.muenster.de/stadt/jugendamt/jahresberichte.html
Treberhilfe Dresden: http://www.treberhilfe-dresden.de
Bundearbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: http://www.bag-wohnungslosenhilfe.de/
www.bunte-projekte.de -
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